Forscher schlagen den ersten Stresstest für ein Gesundheitssystem vor
Pensionierungswelle, Massenquarantäne oder mangelndes Interesse an der Arbeit auf dem Land: Es gibt zahlreiche Gründe, warum überdurchschnittlich viele Arztpraxen gleichzeitig schließen könnten. Das System kann normalerweise einige dieser Defizite ausgleichen. Aber es gibt einen Punkt, an dem die Situation kritisch werden kann. Bisher war es nicht möglich, genau vorherzusagen, wo sich dieser Punkt befindet. Ein Forschungsteam des Complexity Science Hub Vienna (CSH) schlägt nun eine Methode vor, um (Kipp-)Punkte zu identifizieren, an denen eine adäquate medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet werden kann: der erste Stresstest für ein Gesundheitssystem.
In ihrer neuesten Veröffentlichung in Nature Communications zeigen die Wissenschaftler anhand von Daten aus Österreich, wie viele niedergelassene Ärzte und Fachärzte abbrechen können, bevor Patienten in angemessener Entfernung keinen neuen Arzt finden. Die Autoren betonen jedoch, dass ihre Methode in jedem Land angewendet werden kann, das über entsprechende Daten verfügt.
So funktioniert der Stresstest
Für ihre Simulationen hatten die Wissenschaftler Zugriff auf anonymisierte österreichische Patientendaten aus dem Jahr 2018. Sie kombinierten diese mit öffentlich zugänglichen Daten zu Sprechzeiten von Ärzten. Um ihren mehrdimensionalen Datensatz zugänglicher zu machen, entwickelte das Visualisierungsteam von CSH auch eine interaktive Visualisierung.
Unsere Daten zeigen, dass Patienten Ärzte nicht zufällig auswählen, sondern über natürlich entstehende Netzwerke.“
Michaela Kaleta, CSH-Forscherin, eine der Erstautorinnen des Papers
Geht zum Beispiel eine Gynäkologin in den Urlaub, gehen ihre Patientinnen in der Regel ersatzweise zu einem bestimmten anderen Arzt und umgekehrt. Wenn dieselbe Gynäkologin in den Ruhestand geht, werden ihre Patientinnen sehr wahrscheinlich dauerhaft zu dieser Kollegin wechseln.
„Wir sehen, dass solche Patient-Arzt-Netzwerke und Patientenströme gerade im ländlichen Raum erstaunlich konstant sind“, sagt Jana Lasser (TU Graz); die Komplexitätswissenschaftlerin, gemeinsame Erstautorin, ist seit ihrer Zeit am CSH in diese Arbeit involviert.
Die realen Netzwerke speisen die Forscher nun in ein Computermodell ein und „schocken“ das System, indem sie Ärzte entfernen – wie etwa bei einer Krankheitswelle. „Wir können jeweils einen Netzwerkknoten, also einen Arzt-Avatar, aus dem System nehmen und beobachten, wohin sich die Patienten innerhalb des Netzwerks bewegen – und ab wann eine ausreichende Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann“, sagt Lasser.
Augenärzte in der Steiermark und Vorarlberg
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Belastbarkeit der lokalen Gesundheitsversorgung von mehr als nur der Anzahl der Ärzte in dieser Region abhängt, die als „Ärztedichte“ bezeichnet wird.
„Nehmen Sie als Beispiel die Augenheilkunde in der Steiermark und in Vorarlberg“, erklärt Lasser. „Nach unserem Datensatz aus dem Jahr 2018 hatten beide österreichischen Bundesländer etwa gleich viele Vertragsaugenärzte pro Person, also etwa die gleiche Ärztedichte. Allerdings sehen wir, dass ein Schock in Vorarlberg viermal so groß sein kann wie in der Steiermark bevor Patienten keine geeignete Augenbehandlung mehr finden.“ Nach diesem Modell können in der Steiermark 7 % der Augenärzte entfernt werden, bevor die Gesundheitsversorgung kritisch wird, im Vergleich zu 28 % in Vorarlberg.
„Unser Stresstest zeigt sehr genau, in welchen Regionen Österreichs das Gesundheitssystem belastbar ist und wo die Gesundheitsbehörden dringend Maßnahmen zur Verbesserung der Situation ergreifen müssten“, sagt Lasser. „Die regionalen Unterschiede in Österreich können ganz erheblich sein.“
Stresstests ermöglichen eine bessere langfristige Planung
„In vielen Bereichen, etwa im Bankensektor, werden schon lange Stresstests durchgeführt, um sich besser auf Krisen vorzubereiten“, betont Projektleiter Peter Klimek (CSH & Medizinische Universität Wien). „Für das Gesundheitswesen hat lange ein Belastungstest gefehlt.“ Die Pandemie hat jedoch gezeigt, dass die medizinische Versorgung schnell an kritische Grenzen stoßen kann, wenn viele Mitarbeiter gleichzeitig nicht verfügbar sind.
„Mit solchen Krisen werden wir auch in Zukunft fertig werden müssen“, sagt Klimek. „Deshalb stehen alle Länder vor der Herausforderung, ihre Gesundheitssysteme wieder aufzubauen: Sie müssen sie nicht nur bezahlbar halten, sondern auch so umstrukturieren, dass sie widerstandsfähiger gegen Schocks werden.“ Der hier vorgestellte Ansatz ist ein Weg, dieses Ziel zu erreichen. „Wir empfehlen den Gesundheitsbehörden dringend, zu prüfen, wie gut ihre Netzwerke Schocks absorbieren können. Nur wenn wir die Schwächen und Stärken des Systems kennen, können wir die Balance zwischen Kosteneffizienz und Krisenresistenz finden“, schließt Klimek.
Quelle:
Referenz:
Kaleta, M., et al. (2022) Stresstests der Resilienz des österreichischen Gesundheitssystems mittels agentenbasierter Simulation. Naturkommunikation. doi.org/10.1038/s41467-022-31766-7.