Untersuchungen zeigen, dass MS-Medikamente das Schwangerschaftsrisiko nicht erhöhen

Eine Analyse von über 3.700 Schwangerschaften von Frauen mit Multipler Sklerose zeigt, dass die Therapie nicht zu einem erhöhten Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten oder schwere Geburtsfehler führt.
Bei vielen Frauen wird Multiple Sklerose (MS) in einem Alter diagnostiziert, in dem sie über die Gründung einer Familie nachdenken. Was bedeuten die Krankheit und ihre Medikamente für das Kind? Um diese Frage zu beantworten, analysierte ein Forscherteam um Professorin Kerstin Hellwig von der Klinik für Neurologie der Ruhr-Universität Bochum über 3.700 Schwangerschaften von Frauen mit MS. Mehr als 2.800 von ihnen wurden vor oder während der Schwangerschaft mit verschiedenen immunmodulierenden Mitteln behandelt. „Wir fanden heraus, dass die meisten Therapien nicht mit einem erhöhten Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten oder schwere Geburtsfehler verbunden waren“, sagt Kerstin Hellwig. Die Forscher veröffentlichten ihre Ergebnisse am 2. Dezember 2024 in The Lancet Regional Health Europe.
Eine der größten Kohorten der Welt
Die Daten der in die Studie einbezogenen Schwangerschaften stammen aus dem Deutschen Multiple-Sklerose- und Schwangerschaftsregister und wurden zwischen November 2006 und Juni 2023 erhoben. Es wurden 2.885 Schwangerschaften analysiert, bei denen die Mütter eine sogenannte krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) erhalten hatten. Zu den in der Studie verwendeten Substanzen gehörten Interferone, Glatirameractat, Dimethylfumarat, Teriflunomid, S1P-Modulatoren (Fingolimod, Ponesimod), Alemtuzumab, Natalizumab, Anti-CD20-Antikörper (Rituximab, Ocrelizumab, Ofatumumab) und Cladribin. 837 schwangere Frauen hatten keine Medikamente gegen MS erhalten. „Diese Kohorte ist eine der größten weltweit“, betont Kerstin Hellwig. „Es gibt eine hohe Variabilität der Exposition gegenüber den verschiedenen Immuntherapien. Die meisten Frauen hatten erst im ersten Schwangerschaftstrimester Medikamente erhalten.“
Die Forscher verglichen die Häufigkeit von Spontanaborten, Infektionen während der Schwangerschaft, Frühgeburten und Geburtsfehlern und erfassten das Gewicht der Kinder bei der Geburt. Das primäre Ergebnis war, dass die Exposition gegenüber den meisten DMTs während der Schwangerschaft nicht mit einem statistisch signifikanten Anstieg der Häufigkeit von Spontanaborten, Frühgeburten oder schwerwiegenden angeborenen Defekten verbunden war.
Aufgrund der geringen Fallzahlen bei Schwangerschaften mit Cladribin-, Teriflunomid- und Alemtuzumab-Exposition können wir keine eindeutigen Rückschlüsse auf seltene Ereignisse wie angeborene Defekte oder schwere Infektionen ziehen.“
Professorin Kerstin Hellwig, Klinik für Neurologie der Ruhr-Universität Bochum, Deutschland
Erhöhtes Risiko eines geringeren Geburtsgewichts
Insgesamt zeigte die gesamte Kohorte im Verhältnis zur Schwangerschaftsdauer ein erhöhtes Risiko für ein niedriges Geburtsgewicht. 18,8 Prozent der Babys waren betroffen. Bezogen auf alle Geburten in Deutschland beträgt dieser Wert nur 10 Prozent. Auch Kinder von Müttern mit MS, die keine Medikamente erhalten hatten, waren häufiger unterdurchschnittlich schwer, und zwar in 17,6 Prozent der Fälle. Besonders ausgeprägt war dieses Risiko bei Exposition gegenüber S1P-Modulatoren (27,4 Prozent) und Anti-CD20-Antikörpern (24,1 Prozent).
Schwere Infektionen während der Schwangerschaft waren insgesamt selten. Bei Schwangerschaften ohne Medikamente traten sie bei etwa einem Prozent der Mütter auf. Bei Schwangerschaften mit Fumarat- oder Alemtuzumab-Exposition waren sie statistisch signifikant häufiger (2,8 Prozent bzw. 9,1 Prozent). Schwerwiegendere Infektionen – wenn auch statistisch nicht signifikant erhöht im Vergleich zur Kontrollgruppe – traten bei Schwangerschaften auf, die im letzten Schwangerschaftstrimester mit Natalizumab und mit S1P-Modulatoren mit jeweils drei Prozent und mit Cladribin mit 4,8 Prozent behandelt wurden. „Interessant ist, dass es nur bei 0,6 Prozent der Schwangerschaften, die Anti-CD20-Antikörpern ausgesetzt waren, zu schweren Infektionen kam“, betont Kerstin Hellwig. Frauen, die Natalizumab im zweiten (26,7 Prozent) oder dritten (20,7 Prozent) Schwangerschaftstrimester erhielten oder bis zu sechs Monate vor ihrer letzten Menstruation (23,2 Prozent) mit Anti-CD20-Antikörpern behandelt wurden, erhielten während der Schwangerschaft häufiger Antibiotika als Frauen die kein DMT erhalten hatten (12,1 Prozent).
Individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung
„Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass es bei etwa 300 Schwangerschaften zu einer Verdreifachung des Risikos schwerer Geburtsfehler und bei etwa 1.000 zu einer Verdoppelung kommt“, sagt Kerstin Hellwig. Während die meisten DMTs das Risiko kritischer Schwangerschaftskomplikationen nicht erhöhen, erhöht die Exposition gegenüber S1P-Modulatoren, Natalizumab und Anti-CD20-Antikörpern die Wahrscheinlichkeit eines niedrigen Geburtsgewichts und eines verlangsamten intrauterinen Wachstums. Dies ist ein Risikofaktor sowohl für den Tod von Föten und Neugeborenen als auch für zahlreiche Krankheiten im späteren Leben, darunter Diabetes mellitus Typ 2 und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Weitere Auswertungen im Register sind geplant, beispielsweise ob und wann die Kinder den Wachstumsrückstand ausgleichen. „Die Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung und eine engmaschige ärztliche Überwachung während der Schwangerschaft sind“, schlussfolgert Kerstin Hellwig.
Quellen:
Reczek, C. R., et al. (2024). Metformin targets mitochondrial complex I to lower blood glucose levels. Science Advances. doi.org/10.1126/sciadv.ads5466.