Die Forschung verdeutlicht das Auftreten immunevasiver SARS-CoV-2-Varianten bei immungeschwächten Patienten
Immungeschwächte Patienten und die Entstehung neuer SARS-CoV-2-Varianten: Ein alarmierender Einblick in die langfristige Virusentwicklung
Neue Forschungsergebnisse, die nächste Woche auf dem ESCMID Global Congress (ehemals ECCMID) in Barcelona, Spanien (27.-30. April) vorgestellt werden sollen, verdeutlichen das Risiko, dass bei immungeschwächten Patienten neue immunevasive SARS-CoV-2-Varianten auftreten. Der Bericht stammt von der Doktorandin Magda Vergouwe, Zentrum für Experimentelle und Molekulare Medizin (CEMM), Amsterdam University Medical Center (Amsterdam UMC), Universität Amsterdam, Niederlande, und Kollegen.
Sie beschreiben die verlängerte Virusentwicklung bei einem mit SARS-CoV-2 infizierten Patienten über 613 Tage, die zu einer stark mutierten neuen Variante führte. Nach Kenntnis der Autoren handelt es sich um die bisher längste SARS-CoV-2-Infektionsdauer, obwohl bereits mehrere Fälle von Hunderten von Tagen registriert wurden.
Während gesunde SARS-CoV-2-infizierte Patienten das Virus innerhalb von Tagen bis Wochen beseitigen können, kann eine immungeschwächte Person eine persistierende Infektion mit verlängerter Virusreplikation und -entwicklung entwickeln. Man geht beispielsweise davon aus, dass das ursprüngliche Auftreten der Omicron-Variante von einem immungeschwächten Individuum ausging, was die Bedeutung einer genauen genomischen Überwachung bei dieser Patientenpopulation unterstreicht. Darüber hinaus kann der Einsatz gezielten Immundrucks, einschließlich monoklonaler Antikörpertherapien und/oder neuartiger antiviraler Medikamente, die Entstehung viraler Escape-Varianten weiter fördern.
Vergouwe und Kollegen beschreiben in ihrem Bericht einen 72-jährigen immungeschwächten männlichen Patienten, der in das Universitätsklinikum Amsterdam eingeliefert wurde im Februar 2022 mit einer SARS-CoV-2-Infektion. Aufgrund einer Vorgeschichte allogener Stammzelltransplantationen zur Behandlung eines myelodysplastischen und myeloproliferativen Überlappungssyndroms wurde er als immungeschwächt eingestuft. Dies wurde durch die Entwicklung eines Lymphoms nach der Transplantation erschwert, für das er Rituximab erhielt, das alle verfügbaren B-Zellen dezimiert, einschließlich derjenigen, die normalerweise die gegen SARS-CoV-2 gerichteten Antikörper produzieren.
Zuvor hatte er bereits mehrere SARS-CoV-2-Impfungen erhalten, ohne dass es bei der Krankenhausaufnahme zu einer messbaren SARS-CoV-2-IgG-Antikörperreaktion kam. Die routinemäßige genomische Überwachung ergab eine Infektion mit der Omicron SARS-CoV-2-Variante BA.1.17. Er erhielt eine Behandlung mit dem gegen SARS-CoV-2 gerichteten Antikörper Sotrovimab, dem Anti-IL6-Antikörper Sarilumab und Dexamethason ohne klinisches Ansprechen.
Die nachfolgende SARS-CoV-2-Sequenzierung zeigte die Entwicklung der bekannten Sotrovimab-Resistenzmutation S:E340K bereits 21 Tage nach Erhalt der Sotrovimab-Infusion. Die SARS-CoV-2-spezifische T-Zellaktivität und die Entwicklung von Anti-Spike-Antikörpern waren im ersten Monat minimal, was darauf hindeutet, dass das Immunsystem des Patienten nicht in der Lage war, das Virus zu beseitigen. Die anhaltende Infektion hat aufgrund der umfassenden Evolution innerhalb des Wirts zur Entstehung einer neuen immunevasiven Variante geführt. Am Ende starb der Patient an einem Rückfall seiner hämatologischen Erkrankung, nachdem er insgesamt 613 Tage lang SARS-CoV-2-positiv mit hoher Viruslast geblieben war. Glücklicherweise kam es zu keiner dokumentierten Übertragung der stark mutierten Variante auf Sekundärfälle in der Gemeinschaft.
Genauer gesagt waren die 613 Tage nach dem ersten Nachweis von SARS-CoV-2 durch mehrere mit SARS-CoV-2 in Zusammenhang stehende und nicht verwandte symptomatische Episoden gekennzeichnet, die eine Krankenhauseinweisung erforderlich machten. Die anhaltende SARS-CoV-2-Infektion führte dazu, dass der Patient während der Krankenhauseinweisung längere Isolationsphasen hatte und verstärkt persönliche Schutzmaterialien verwendete, was seine selbstberichtete Lebensqualität erheblich beeinträchtigte. Die vollständige Genomsequenzierung von SARS-CoV-2 wurde an 27 nasopharyngealen Proben durchgeführt, die von Februar 2022 bis September 2023 gesammelt wurden. Dabei wurden über 50 Nukleotidmutationen im Vergleich zu derzeit weltweit zirkulierenden BA.1-Varianten mit mehreren Aminosäuresubstitutionen, einschließlich des ACE-2-Rezeptors, festgestellt Bindungsstellensubstitutionen S:L452M/K und S:Y453F. Darüber hinaus entwickelten sich mehrere Deletionen in der N-terminalen Domäne von Spike, was auf eine Immunflucht hindeutet.
Die Autoren sagen: „Dieser Fall unterstreicht das Risiko anhaltender SARS-CoV-2-Infektionen bei immungeschwächten Personen, da aufgrund der umfassenden Evolution innerhalb des Wirts einzigartige SARS-CoV-2-Virusvarianten entstehen können. Wir betonen die Bedeutung einer kontinuierlichen genomischen Überwachung der SARS-CoV-2-Entwicklung bei immungeschwächten Personen mit anhaltenden Infektionen angesichts der potenziellen Gefahr für die öffentliche Gesundheit, die möglicherweise durch die Einführung viraler Escape-Varianten in die Gemeinschaft entsteht.„
Obwohl eine engmaschige Überwachung erforderlich ist, betonen die Autoren, dass ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Öffentlichkeit vor potenziellen neuen Varianten und einer humanen unterstützenden Pflege zu Hause für schwerkranke Patienten am Lebensende bestehen muss. Mögliche Lösungen können ein erhöhtes Bewusstsein für potenzielle Risiken in Kombination mit der Bereitstellung frühzeitig zugänglicher diagnostischer Tests bei bekannten (Familien-)Kontakten sein, sobald diese relevante Symptome entwickeln. Dies sollte mit einer genomischen Überwachung kombiniert werden, um gemeinsam mit Fachleuten des öffentlichen Gesundheitswesens die Bedrohung für die öffentliche Gesundheit einzuschätzen. Die Autoren betonen, dass zwar möglicherweise ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung neuer Varianten bei immungeschwächten Patienten besteht, sich jedoch nicht jede neue Variante bei diesen Patienten zu einer neuartigen besorgniserregenden Variante (VOC) für die Gemeinschaft entwickeln wird. Die zugrunde liegenden Mechanismen, die an der Entwicklung einer VOC beteiligt sind, sind viel komplexer, da sie auch von Faktoren in der den Patienten umgebenden Bevölkerung abhängen, einschließlich der Prävalenz der B- und T-Zell-bezogenen Immunität.
Die Autoren kommen zu dem Schluss: „Die Dauer einer SARS-CoV-2-Infektion ist in diesem beschriebenen Fall extrem, längere Infektionen kommen bei immungeschwächten Patienten jedoch weitaus häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. Zu den weiteren Arbeiten unseres Teams gehört die Beschreibung einer Kohorte länger anhaltender Infektionen bei immungeschwächten Patienten aus unserem Krankenhaus mit Infektionsdauern zwischen 1 Monat und 2 Jahren. Aus Sicht der breiten Öffentlichkeit bleiben anhaltende Infektionen jedoch selten, da die immungeschwächte Bevölkerung nur einen sehr geringen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ausmacht.„
Quellen: